Mettfiktion

Aus: ReLü 13 (August 2012)

Mettfiktion

Alles ist grün von David Foster Wallace in der großartigen (und manchmal streitbaren) Übersetzung von Ulrich Blumenbach

Es ist der pure Eigensinn von David Foster Wallace’ deutscher Editionsgeschichte, dass diese Texte 2011 und in dieser Auswahl erscheinen, wirkt aber frappierend plausibel: Was unter dem Titel Alles ist grün versammelt ist, sind die bislang unübersetzten Storys Nummer 2, 6, 8, 9, 10 aus Girl with Curious Hair von 1989, und wer das nicht wüsste, könnte Alles ist grün für einen sorgfältig vom Autor komponierten Erzählband halten. Dem nun allerdings ein wenig Schlagschatten droht zwischen Wallace’ späteren Romanriesen Infinite Jest (Unendlicher Spaß) und The Pale King, jenem Fragment gebliebenen, vielleicht verschrobensten amerikanischen Romanprojekt der Nullerjahre, das 2013 auf Deutsch erscheinen soll. Die Konstellation also provoziert Vergleiche zwischen einem „frühen” und „späteren” Wallace, verleitet zu „schon”- und „noch”-Konstruktionen. Und warum auch nicht, es ist offenkundig, dass in Alles ist grün ein junger Autor sucht und probiert, und mindestens ebenso unverkennbar, wie traumwandlerisch er die Tonlagen bereits beherrscht.

Es ist alles da in Alles ist grün: der Sprachwitz, die Beschreibungsobsession, die multiplen Verschraubungen von Wallace’ Metafiktion. Wie um die Spannweite der eigenen Ästhetik zu vermessen, stehen die beiden Schlusserzählungen kontrastierend nebeneinander: die nur zwei Seiten lange, lyrisch gefärbte Miniaturprosa, die dem deutschen Band den Titel gibt, und ein 200-seitiges, an John Barth angelehntes Erzählungetüm namens „Westwärts geht der Lauf des Weltreichs”, das trotz seiner exzessiven Selbstbezüglichkeit alles andere ist als bloßes literarisches Spiel.

Tatsächlich treibt es Wallace bis zu dem Punkt, an dem die Erzählung immer auch als ihre eigene Parodie, die „metafiction” als „meatfiction” lesbar ist.[i] Zu dem Punkt, wo alles seine perspektivische Brechung erhält und der Leser selbst entscheiden muss, ob er die Spirale noch eine Schleife weiter drehen will. Doch funktioniert dieser „unendliche Spaß” nur, weil Wallace seinen Gegenstand (und das Nachdenken darüber) mit einer wahnwitzigen Beobachtungsschärfe durchdrungen hat. Anders gesagt, sein Schreiben ist eminent welt-, erfahrungs-, erkenntnishaltig.[ii]

Das gilt für die McDonald’s-Marketing-Farce der Westwärts-Erzählung und ebenso, entstehungsgeschichtlich viel später, für die Grundidee des „Pale King”, ausgerechnet die US-Steuerbehörde IRS zum literarischen Stoff zu machen. Beide Texte sind immer auch Phänomenologie der amerikanischen Gesellschaft; mit die humorvollste, die es gibt, und doch immer mit den existenziellen Erfahrungen der Angst und der Leere im Hintergrund. (Was keine nachträgliche Projektion ist, es steht X-fach da, im Text. Und auch dies ist eine zentrale Paradoxie, um die Wallace’ Schreiben kreist: dass es dem aufgeklärten Menschen der postpostmodernen Wissensgesellschaft gegen die Virulenz solcher Erfahrungen noch lange nichts nützen muss, ihre wissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Kategorisierungen parat zu haben.)

Dass eine so gleichermaßen weltbezogene wie sprachreflexive Ästhetik den Übersetzer permanent in Prioritätenkonflikte bringt, liegt auf der Hand. Und vielleicht ist es die Handhabung dieser Konflikte, die am meisten über das jeweilige Selbstverständnis eines Übersetzers verrät. Fasst man Übersetzung als eine Art performative Hermeneutik auf, die Verstehensprozess ist und einen Verstehensprozess in Gang setzen will, dann wird man eine Übertragung daran messen, wie aufmerksam sie den semantischen und formalen Besonderheiten des Originals gegenübertritt und in welchem Maße sie diese in der Zielsprache erfahrbar macht.[iii] Dabei aber verhält sich die literarische Übersetzung zum Prinzip Erklärung wie die Metafiktion zur Literaturwissenschaft: Sie erläutert nicht die sprachlichen Phänomene des Ausgangstextes, sondern macht sie sichtbar, als eigener kreativer Vorgang.

Deshalb bleiben philologische „Anmerkungen des Übersetzers” in literarischen Texten so unbefriedigend, weil sie, wenn auch (vermeintlich) notgedrungen, referieren satt transponieren. Hochgradig sprachreflexive und experimentelle Literatur aber bringt man damit gerade um das, was sie ausmacht. Denn diese Texte unterlaufen die viel beschworene Alternative von Treue und Freiheit, weil es für ihre Übertragung, da sich die Sprachsysteme nun einmal nicht gleichen, nur mittels Abweichung eine Nähe zum Ausgangstext gibt; jedenfalls wenn Nähe auch die ästhetischen Verfahren meint.

Für Übersetzer von David Foster Wallace heißt das, die Komplexitäten der Struktur transportieren, schlimmer noch: einer etwas furchteinflößenden Intellektualität gerecht werden zu müssen, und dabei die sinnliche Dimension zu bewahren, die bei Wallace in Plot und Figurenzeichnung, aber auch in der sprachlichen Machart liegt.

Ein Glücksfall für deutschsprachige Wallace-Leser, dass Ulrich Blumenbach genau dies zustande bringt. Virtuos bildet er die Ton- und Registerwechsel, Wallace’ Stimmenimitationen und dessen Anklangsmaschinerie als deutsches Sprachereignis nach. Nur zwei Beispiele für viele: Wo Wallace den Werbeguru Steelritter über den eigenen Sohn lästern lässt („A child who exited a womb inconvenienced“), sind die Kürze und Lakonie des Englischen auf Deutsch nicht zu haben. Und doch ist Blumenbachs Lösung allerfeinster Wallace-Sound: „Ein Kind, das aus der Gebärmutter flutschte und sich inkommodiert fühlte.” Von Blumenbachs Wortfindungsstärke und seinem klanglich-rhythmischen Sensorium profitiert in „Hier und dort” auch die Figurenrede des Schriftstellers Bruce, dessen Bekenntnis zu einer Ästhetik der Kälte dann doch heißläuft vor lauter technokratischer Manifestrhetorik:

Es liegt im Hier. Im Jetzt. Die nächsten Schönheiten werden und müssen neu sein. Ich habe sie aufgefordert, eine kristalline Renaissance zu erschauen; kühl und chipflach; Glanzfasern, die in ästhetischen Matrizen unter einem sich ausbreitenden Natriumfrühlicht blinken. Was uns anrührt und ergo leitet, ist das, was sich anwenden lässt. Ich spüre die bevorstehenden Umwälzungen einer großen Reinigung, einer nahenden Sauberkeit, die an allen Ecken und Enden der Bedeutung schäumt. Ich wittere Wandel und eine Erleichterung von Kosten wie die modrige Verheißung eines Sommerregens. Eine neue Zeit und eine neue Einsicht in Schönheit als Serialität statt Punktualität. Keine singuläre Telizität mehr, Kontemplationen, warmer Kleeatem, wogende Brüste, Geschichten als Symbol, Kolosse; kein Mensch mehr, Faust an der Stirn oder Hand am Dekolleté, verstanden im Sinn einer stampfenden, dröhnenden, erhitzten Natur, ihrerseits begriffen als gefärbt, geformt, umgeben von Düften, sinnstiftend kraft Qualitäten. Keine Qualitäten mehr. Keine Metaphern mehr. Gödelnummern, kontextfreie Grammatiken, Zustandsautomaten, Korrelationsfunktionen und Spektren. Hier nicht sinnlich, sondern kausal verstanden, hier wirksam. Hier im intimsten Sinne. Plasmaelektronik, Makrosysteme, Operationsverstärkungen. Ich sehe mich zugegebenermaßen als Ästhetiker der Kälte, der Neuheit, der Richtigkeit, des wahren und makellosen Hiers. Verteilt gemäß Poisson, morphisch dicht: Elemente, deren Gestalt, Dimension, Eigenart und Implikationen sich wie Sargassen nach einer einzigen strukturierten Relation und einem Funktionskriterium ausbreiten können […]

Blumenbach begegnet den Aporien seiner Aufgabe nicht mit falscher Demut, sondern mit Einfallsreichtum. Zitate und sprachliche Kapriolen baut er auch schon mal eigenständig ein, da andere nicht hinüberzuretten sind. Wortspiele, Witze und Doppeldeutigkeiten schafft er auf Deutsch einfach neu, macht aus „FIRM DOCTORS TELEPHONE POLES” ein kongeniales „Brendel verleiht Flügel”. Weil das Deutsche stärker flektiert, gibt es hier keine exakte Entsprechung für die extreme Mehrdeutigkeit von Wallace’ Formel, in der jeder Bestandteil zwei Wortarten angehören oder zumindest zwei grundverschiedene Bedeutungen haben kann. Trotzdem transportiert Blumenbach das Wesentliche in den deutschen Text: schlagwortartige Kürze, Wortspiel mit Doppeldeutigkeit, werbesprachlichen Headline-Duktus und die eigentliche Pointe, dass diese Mehrdeutigkeit über den vordergründigen Effekt hinaus keinen Sinn- oder Referenzgehalt hat.

Gerade solche vermeintlich unübersetzbaren Stellen im Original also sind es, die besondere Aufmerksamkeit auf die Leistung des Übersetzers lenken, weil sie die Option wörtlicher Treue ad absurdum führen und einen kreativen Umweg erfordern. So gesehen wäre dem Einstieg von Ulrich Blumenbachs Essay Wider Deutsch mit Bügelfalten oder: Aufs Maul schauen 2.0 (ReLü 11) vorsichtig zu widersprechen, wenn es da heißt: „Dem guten Übersetzer schenkt man ungefähr so viel Aufmerksamkeit wie einem gut geputzten Fenster, das ungetrübte Sicht ins Freie gewährt. Mit steigender Qualität unserer Arbeit sinkt unsere Sichtbarkeit.” Dass die Zahl der ‚aktiven‘ Rezipienten einer guten Übersetzung gering ist, mag sein, aber es gibt sie, und dass bestimmte ästhetische Phänomene ein Minderheitenvergnügen sind, gilt für alle Kunst. Sichtbarkeit heißt nur Gesehenwerdenkönnen. Und diese Möglichkeit besteht in Alles ist grün gerade durch die vermeintlichen Aporien und weil nicht nur „mit steigender”, sondern schlichtweg außergewöhnlicher Qualität übersetzt wurde.

Trotzdem – um die Haare in der Suppe zu suchen – wirkt nicht jede Lösung gleichermaßen glücklich. Die Erzählung „Sag nie” zum Beispiel: Wallace arbeitet sich auch hier an einem der Großen, Philip Roth, ab, schafft eine Konstellation, die an dessen Roman Portnoy’s Complaint (Portnoys Beschwerden) erinnert, Figuren, deren Humor aus der jüdisch-amerikanischen Erzähltradition vertraut ist und deren Sprechweise kleine syntaktische Eigenheiten pflegt – ein Kontext, der sich im Deutschen so nicht nachbilden lässt. Im Unterschied zum Original baut Blumenbach deshalb zahlreiche Ausdrücke aus dem Jiddischen ein. Weil es sich dabei aber vor allem um solche handelt, die in die Umgangssprache eingegangen sind (Mischpoche, Schlamassel, meschugge, …), wirkt die Figurenrede auch etwas konstruiert und mitunter flapsig, wo das Original einen ernsten Ton anschlägt.

Übereifrig ist die Umakzentuierung auch, wo sich Mikey mit den Worten „they just do it without me” beschwert, Freundin und Bruder hätten mit dem Koksen nicht gewartet. Denn wenn er in der Übersetzung mit einem vollmundigen „da werfen die ohne mich den Nasenturbo an” stänkert, fällt die für den Plot zentrale Doppeldeutigkeit unter den Tisch, dass der um einen Rausch Geprellte zugleich ein Gehörnter ist. An anderen Stellen wiederum wirkt die Übersetzung vielleicht sogar zu brav, weil ein wenig didaktisch. So wird etwa Wallace’ „SHRDLU” erklärend zu „Blindtext”.[iv] Warum darf der Leser das nicht selber merken?

Aber selbst die problematischeren Entscheidungen kommen bei Blumenbach aus einer Textkenntnis, die staunen lässt.


David Foster Wallace: Alles ist grün. Storys, übersetzt von Ulrich Blumenbach, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 267 Seiten, 19,99 €

David Foster Wallace: Girl with Curious Hair, New York: W. W. Norton & Company 1989, 373 Seiten


[i] Ulrich Blumenbachs Übertragung „Mettfiktion” ist der seltene Fall eines einzelnen Wortspiels, das es ohne jeden Reibungsverlust in die Zielsprache schafft: Seine Lösung erhält beide semantischen Bezugsfelder des Ausgangstextes und das formale Verfahren der Verballhornung durch minimale phonetische Verschiebung. Mehr geht nicht.

[ii] Was David Foster Wallace in seinem Essay zu David Marksons Wittgenstein’s Mistress über den Brief der Protagonistin schreibt, ließe sich, aphoristisch zugespitzt, auf sein eigenes Schreiben übertragen: Es „entspringt der Notwendigkeit, nicht der Kunst” (David Foster Wallace: Das leere Plenum. Versuch über David Marksons Roman Wittgenstein’s Mistress. Aus dem amerikanischen Englisch von Gerd Burger, in: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 60 (April 2003), S. 86-101, hier: S. 90).

[iii] Verstehen folglich nicht im Sinne von Decodierung einer Botschaft, sondern von Annäherung an die ästhetischen Eigenheiten des Ausgangstextes. Bezogen auf Mehrdeutigkeiten des Originals ist gerade das Gegenteil von Bedeutungsfestlegung gemeint. Die ideale Übersetzung, so jedenfalls die Prämisse dieser Ausführungen, zielt auf Komplexitätserhaltung, offeriert dem Leser also möglichst einen gleich großen Deutungsspielraum wie der Ausgangstext – performative Hermeneutik zweiter Ordnung also.

[iv] Weil hier erklärt wird statt übersetzt, wird sozusagen der ursprüngliche Leseeffekt getilgt. Selbst wenn man das Wissen um die Buchstabenkombination auf einer Linotype-Setzmaschine heute nicht mehr voraussetzen wollte (eine aktuelle Entsprechung im deutschen Sprachraum wäre vielleicht „QWERTZ”): Würde der Leser nicht trotzdem verstehen, was gemeint ist?