Rezension für literaturkritik.de (17.11.2008):
Mehr vom Jetzt
Doch etwas viel Wald. „Lyrik von Jetzt 2″ ist trotzdem ein hocherfreuliches Buch
Als Björn Kuhligk und Jan Wagner im Sommer 2003 die Anthologie „Lyrik von Jetzt“ herausgaben, wurde das von Beginn an als Gründungsdokument einer neuen Lyriker-Generation verstanden. „Ein Buch“, schrieb damals Gerhard Falkner in seinem Vorwort, „das eine Generation komplett aus dem eigenen Boden gestampft hat.“ So leicht man die Doppeldeutigkeit dieser Formulierung übersehen kann, so sehr trifft sie ins Schwarze. Die Sammlung war eine Koproduktion von 74 in ihren Poetiken zum Teil höchst unterschiedlichen Autoren und hat andererseits erst diese Autoren-Generation hervorgebracht – als Rezeptionskategorie.
Dass nur fünf Jahre nach „Lyrik von Jetzt“ nun Teil 2 mit 50 weiteren Autoren vorliegt und tatsächlich das von den Herausgebern intendierte „Nachschlagewerk und Abenteuer“ in einem ist, spricht für die Vielstimmigkeit und Vitalität der Szene, die sich in einem nur noch schwer überschaubaren Markt anspruchsvoller neuer Publikationsorgane abspielt. Umso höher ist es Kuhligk und Wagner anzurechnen, mit ihrer Edition einen Überblick zu bieten, ohne die Pluralität der aktuellen Schreibweisen zu reduzieren. Einziger kleiner Einwand: Auch wenn die grobe Orientierung am Geburtsjahr 1975 flexibel gehalten ist (die Ältesten in dem Band sind Jahrgang 1970), ist die Altersgrenze vielleicht doch ein etwas zu äußerliches Kriterium für eine notwendige Bedingung. So fallen die „spätberufenen“ Autoren auf Grund ihres Alters durchs Raster, auch wenn sie genauso neue Stimmen im Literaturbetrieb sind, sich in denselben Foren organisieren und in den gleichen Zeitschriften publizieren.
Was bei der Lektüre der Gedichte besonders auffällt, ist dass ausgerechnet in einer Lyrik, die so nachdrücklich mit den Attributen „neu“, „von jetzt“ und „jung“ versehen wird, inhaltlich wie sprachlich so viel Tradition mitklingt. Das muss nicht gleich ein Widerspruch sein und schon gar nicht bedeutet es per se einen Mangel der Texte. Vielmehr hat das Zeitgenössische der Gedichte maßgeblich mit gerade dieser Spannung zu tun. Verlinkung ist nicht nur ein literatursoziologisch entscheidender Faktor, der die „Lyrik von Jetzt“ zu einem Phänomen macht, das Spezielleres meint als einfach nur Dichtung der Gegenwart. Sie ist in gewisser Weise auch poetologisches Prinzip. Anwendbar wird potenziell das gesamte Arsenal an lyrischen Techniken, Formen und Tonlagen. Neuerung wird weniger in der Sprachinnovation nach klassischem Verständnis gesucht als vielmehr in der innovativen Kombinatorik.
Allerdings scheint Vernetzung auch das Entstehen von gewissen Mainstream-Effekten zu begünstigen. Das gilt zum einen fürs technische Detail. Das harte Enjambement hat manchmal fast schon zu große Selbstverständlichkeit; ebenfalls hoch im Kurs stehen der meist sehr subtil eingesetzte Binnenreim und das punktuelle Anagramm als Spielmoment oder poetische Keimzelle. Der uneingeschränkte Star unter den Stilmitteln aber ist die Alliteration, überwiegend in erstaunlich traditioneller Verwendung: Man ›häutet Hasen‹, ›windet die Wälder‹ und geht, das ›Rad im Rücken‹, ›hinterher zum hellen Hof‹. ›Wundgelegenes Warten‹ bei ›Gläserklirren‹ und ›schrägen Schatten‹, während Feuer Fichten frisst. Der Milan ›stirbt im Sturzflug‹ und Wasser, als ›wenn es Winter wäre‹, ›friert an einem Felsen fest‹. Es ist bestimmt ein ehrgeiziges und respektables Anliegen, ein Verfahren seinem Mottenkistendasein zu entreißen. So prononciert und in der konventionellen Decorums-Funktion, kommt aber auch ›schmales Schweigen‹ rhetorisch ziemlich dick daher – selbst bei den starken Texten.
Noch auffälliger ist ein Trend im Inhaltlich-Thematischen, der gegenüber dem ersten Teil der Anthologie markanter ist und den es bei aller zurecht immer wieder betonten Vielfalt eben auch gibt. (Die Eindrücke verschieben sich allerdings wieder etwas mit Blick in Ron Winklers ebenfalls sehr lesenswerte Anthologie „Neubuch“.) Es faunt und flort in den Zeilen wie lange nicht mehr. Von aktuellen politischen und sozialen Fragen findet sich dagegen eher wenig in der „Lyrik von Jetzt“. Über die Qualität eines Textes ist damit wahrscheinlich noch nichts gesagt. Aber vielleicht kann man behaupten, dass das Naturgedicht mit seinem riesenhaften Traditionswust einen umso eigeneren, spezifisch heutigen Zugriff auf sein Objekt braucht, um noch überzeugen oder gar so etwas wie eine begeisterte Leseerfahrung bewirken zu können.
Das gelingt vor allem da, wo das Gedicht sich nicht in der reinen Natur verheddert, wo es mit doppeltem Boden spielt, die Idyllenlandschaft raffiniert untergräbt, wie das an den besten Stellen bei Nora Bossong der Fall ist. Wo die Texte letztlich nicht auf eine Bilderliste zielen, sondern auf eine dezidiert gegenwärtige Art der Naturwahrnehmung, die von der Erfahrung einer medialen, zunehmend virtuell verdoppelten Welt her zu verstehen ist, ohne deren unabhängiges Gegenstück sein zu können. Oder wo, wie bei André Rudolph zum Beispiel, das Naturgedicht die Gattungsaskese aufgibt und Landschaft zum Resonanzraum für politisches Zeitgeschehen wird.
Daneben enthält der Band aber auch Texte, bei denen sich ein gar nicht oder allzu zaghaft gebrochener Märchenton mit sprachlichem Sicherheitsdenken verbindet und den herkömmlichen Naturbildern wenig beigegeben wird, woran sie sich reiben. Das wirkt dann leider ein wenig brav und verhindert die Eigenständigkeit einer persönlichen Gedichtsprache, mit der andererseits etliche Stimmen des Bandes hervorstechen.
Eine unvollständige Auswahl (subjektiv ohnehin): Sabina Naefs Gedicht-Miniaturen zeichnen mit knappen Strichen die verblüffendsten Augenblicks-Wahrnehmungen auf und bleiben, obwohl da keine Silbe zu viel ist, viel zu schwebend-elegant, als dass „Komprimierung“ das richtige Wort wäre. Im Ton ganz anders aber in ihrer gewitzten Zusammenstellung ähnlich unverbraucht sind die Bilder von Herbert Hindringer, dessen Texte das reine Vergnügen sind. Schnöde analysiert, scheint es gar kein großer Aufwand, den er treibt: kleine Durchkreuzungen von metaphorischer und unbildlicher Rede, von materieller und inhaltlicher Seite des Gedichts. Dahinter aber stecken ein bemerkenswerter Sinn für Pointen und das Wissen, dass diese allein nicht reichen.
Stephan Schmitzer mit seinem fulminanten Langgedicht „(viertausend, gleißen)“ ist eine der Entdeckungen, die ich persönlich erst dieser Anthologie verdanke. Dagegen handelt einem der Hinweis auf die vielgelobte Ann Cotten schon fast den Vorwurf des Opportunismus ein. Aber was will man machen? Die „Fremdwörterbuchsonette“ sind halt auch großartig in ihrem Mix aus Beat-Slang, Posertum, Dingsda-Ton und Pathos-Versatz. Ihre Gedichtsprache macht überhaupt keinen Hehl daraus, dass sie den eigenen Konstruktivismus längst überdreht und damit schon wieder hinter sich gelassen hat. Das beeindruckt auch in Texten, die den einen oder anderen schwächeren Vers enthalten.
Ähnlich große Energie, wie sie bei Cotten aus dem Zusammenprall der Wörter und dem Einspannen in die zugleich wieder sabotierte Form entsteht, entwickeln auch die Verse von Mara Genschel, allerdings in ganz anderer Weise. „LKW, morgens“ ist so ein Text. Phonetik, Rhythmus und eine traumverschobene Semantik bilden aus einer halb somnambulen Alltagsbeobachtung ein komplexes Assoziationsgefüge, das die einzelnen Elemente eines sich selbst potenzierenden Sprechens schichtet und verschwimmen lässt, kühles Stocken und ekstatisches Pulsieren dabei immer enggeführt.
Bei Marcus Roloff hingegen bedeutet Rhythmus ein genaues Austarieren im Wechsel von zögernder Beschleunigung und einer reflexiven Stauung, die, wo das im Thema begründet ist, fast bis zum Erliegen der Versbewegung gehen kann. Das ist in der Motiviertheit kleinster sprachlicher Details ganz enorm und verträgt sich gar nicht so sehr mit den Konnotationen des Labels „junge Lyrik“, das ja doch ein bisschen nach Schülermannschaft und Nachwuchsorchester klingt. Den Texten und der Professionalität, mit der sich ihre Autoren im Literaturbetrieb bewegen, ist diese Assoziation ganz unangemessen.
Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hrsg.): Lyrik von Jetzt zwei. 50 Stimmen. Berlin Verlag, Berlin 2008. 288 Seiten, 19,90 EUR. ISBN 978-3827008091