„Unübersetzbar!“

erschienen in: Merkur 815, April 2017, S. 41–57.

„Unübersetzbar!“

Noten zur Begriffspolyphonie oder Nachtrag zu inter_poems [1]

 

„Nichts ist unübersetzbar“ (Jacques Derrida)

„Alles ist unübersetzbar“ (Jacques Derrida)

 

Wer vom Übersetzen spricht, landet früher oder später (meistens früher) beim Unübersetzbaren. Was sich am Textdetail entzündet, führt regelmäßig in den heiligen Ernst der Grundsatzdebatte. Auftritt der Ist-Sätze, hoch im Kurs die Worte „nichts“ und „alles“.

Dabei ist „unübersetzbar“ eine Formel von frappanter Unschärfe, meist hochgradig rhetorisch gebraucht und eingespannt in unterschiedlichste, ihrerseits interpretationsbedürftige Argumentationsstrategien. Wenn Derrida, um nur ein Beispiel anzuführen, in seinen übersetzungstheoretischen Schriften behaupten kann, nichts sei unübersetzbar und eben doch alles,[2] steht dahinter mehr als bloße Lust an der Scheinparadoxie. Es öffnet das Spannungsfeld einer Denkbewegung, in der Unübersetzbarkeitsbefunde als kritisch-interventionistische Sprachgesten lesbar werden. Vom Unübersetzbaren zu sprechen, muss deshalb immer auch heißen, den sprachlichen Trick, mit dem die Sprecher und ihre Intentionen in der Silbe „bar“ verschwinden, rückgängig zu machen – und die W-Fragen zurückzuholen. Wer kann was warum nicht übersetzen? Und wer ruft „(un)übersetzbar!“ zu welchem Zweck? Als These vorweg: Wer „unübersetzbar“ sagt, resümiert nicht, sondern setzt in Gang. Übersetzung als Lese- und Interaktionskunst nimmt hier erst ihren Anfang.

 

I

Wenn von Unübersetzbarkeit die Rede ist, werden in der Regel Einzelwörter angeführt. Lexeme, deren spezifische Bedeutung sich im Sprachtransfer verliert oder deren Bedeutungsspektrum sich in der Übersetzung verringert. Sie sind die Celebrities unter den Wörtern, ihre Anziehungskraft führt den Unübersetzbarkeitsdiskurs weit aus der Nerd-Nische hinaus ins Populäre. Sie befeuern eine Sammellust, die sich in unzähligen Listen unübersetzbarer Wörter manifestiert, und inspirieren bestsellertaugliche Anthologien in Buchform, wie bei Ella Frances Sanders: „ein Sammelsurium“ von über 50 „unübersetzbaren Wörtern aus der ganzen Welt“, so der Klappentext der deutschen Ausgabe, reich illustriert und mit dem unvermeidlichen Titel Lost in Translation versehen.

Anders als im Deutschen haben solche „unübersetzbaren“ Wörter im Französischen und Englischen mittlerweile ihre eigene Kategorienbezeichnung, das Dictionnaire des intraduisibles (2004) und sein Nachfolger, das Dictionary of Untranslatables (2014), sind ihre Hall of Fame.[3] Offenbar sind die topische „Lost in Translation“-Klage und die Faszination fürs Untranslatable Geschwister. Und die Zusammenstellung solcher Sammlungen ist gleichermaßen Ausdruck wie Katalysator dieser Faszination.

Unweigerlich bedeutet die Nobilitierung zum Untranslatable auch Auratisierung: Das Wort erhält den Status eines Eigennamens, der – wieder Derrida – schon beinahe nicht mehr „zur Sprache oder zu deren System“ gehört,[4] weil er über Sprachgrenzen hinweg unverändert bleibt. Diese Zuschreibung ist folgenreich, weniger wegen des leisen Individualitäts- und Unvergleichlichkeitspathos, das hier eher unterschwellig mitschwingt; sondern weil der Ausweis der besonderen Dignität eines Begriffs auch dessen besondere Erläuterungsbedürftigkeit feiert. Das Untranslatable umgibt die Aura einer nie ganz auflösbaren Rätselhaftigkeit, die umso stärkeres Verstehensbegehren hervorruft.

Zugleich sind Untranslatables auch ein geeigneter Anlass, die politische Dimension von Übersetzungsdiskursen offenzulegen. So zeigen die Vorworte des Dictionary beziehungsweise des Dictionnaire mit ihrem hegemoniekritischen Grundimpuls, warum die Herausgeberinnen Barbara Cassin und Emily Apter die Sammlungen als Bekenntnis zum sprachlichen und konzeptuellen Pluralismus begreifen. Das Beharren auf dem „Unübersetzbaren“ fungiert als ideologiekritischer Einspruch gegen eine als selbstverständlich begriffene globale Vormachtstellung des Englischen und die Herausbildung des „Globish“ als alles dominierender Lingua franca. Mit Blick auf die Geschichte der Sprachentwicklung und die kontinuierliche Bearbeitung jeglicher Standardsprache durch unzählige Abweichungen und „chromatische Sprachen“ (Deleuze/Guattari) kann man dieser Befürchtung durchaus gelassener gegenüberstehen. Aber Cassins und Apters Idiosynkrasie bezieht ihre Relevanz vor allem aus einer mentalitäts- und erkenntniskritischen Stoßrichtung gegen jeden Zentrismus des Eigenen.

Hinter dieser Mahnung lässt sich ein Problem identifizieren, das schon Friedrich Schleiermacher als Gretchenfrage aller Übersetzung ausgemacht hat: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“[5] Schleiermacher votiert in seinem Vortrag Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens (1813) emphatisch für die „Verfremdung“ der eigenen Sprache im Übersetzungsvorgang, ein Konzept, das in den postkolonialen translation studies als „foreignization“ seit Jahren eine Renaissance als reflexives Diskurskorrektiv erlebt.

Vor diesem Hintergrund wird das Insistieren auf „Unübersetzbarkeit“ lesbar als Einspruch gegen sprachliche und kulturelle Gleichmacherei unter den Vorzeichen einer dominanten Eigenkultur. Mit den Worten von Michael Wetzel in seinem exzellenten Nachwort zu Derridas Einsprachigkeit des Anderen: „Das Monitum der Unübersetzbarkeit fordert auch die Achtung der anderen Sprachen als Sprachen der anderen in ihrer Einzigartigkeit, die sich nicht übertragen, in ihrer Fremdheit reduzieren läßt.“[6]

Dieser zentralen Einsicht war jedoch immer schon – und ist es heute umso mehr – komplementär ein zweites Korrektiv an die Seite zu stellen. Denn wo Differenz ihrerseits verabsolutiert wird, ist es nicht weit bis zum neurechten Konstrukt des sogenannten „Ethnopluralismus“, eines Pseudopluralismus, hinter dessen scheinheiliger Begriffs-Camouflage kein anderes Ziel steht als die maximale Exklusion des Anderen: Pluralismus ja, aber bitte anderswo.

Derridas scheinparadoxe Doppelbehauptung, wonach gleichzeitig alles und nichts als übersetzbar zu gelten habe, hat deshalb auch darin ihren Sinn, dass sie beide Ausschließlichkeiten zurückweist, jene der Differenz wie jene der harmonisierenden Einebnung. Sie fordert stattdessen das je neue In-Beziehung-Setzen von Eigenem und Fremdem.

Vor diesem Hintergrund erhebt die Unübersetzbarkeitskonzeption von Cassin und Apter entschieden Einspruch gegen essentialistische Fremdheitskonstruktionen und die Verabsolutierung kultureller Differenz: „Untranslatables signify not because they are essentialist predicates of nation or ethnos with no ready equivalent in another language, but because they mark singularities of expression that contour a worldscape according to mistranslation, neologism, and semantic dissonance.“[7]

Diese Haltung schließt das Bewusstsein für die Gefahr mit ein, dass Unübersetzbarkeitsbehauptungen zu (nationaler) Stereotypisierung führen können. Die Vorstellung eines Nebeneinanders von saudade-Portugiesen, Waldeinsamkeits-Deutschen und esprit-Franzosen – um nur die eurozentristischste Beispielreihe zu nehmen – dürfte so ziemlich das Antibild einer pluralen Gesellschaft sein.

Barbara Cassins Unübersetzbarkeitskonzeption also ist kein Dokument kulturrelativistischer Unüberwindbarkeit, sondern intentional wie performativ das exakte Gegenteil: ein Plädoyer für ein immer wieder neues Vergleichen im Modus der Selbstreflexion und der permanenten Hinterfragung von Unübersetzbarkeitsbefunden. Übersetzung lässt sich auf diese Weise nicht als Resultat, sondern als Tätigkeit verstehen, als Interaktions- und Aushandlungsprozess, der die Relation von Eigenem und Fremdem vermisst.

Zurück zur Wortebene. Wenn Wilhelm von Humboldt Recht hatte und verschiedene Sprachen verschiedene Weltansichten sind, mithin dieselbe Sache nie auf exakt dieselbe Weise ausdrücken (Benjamin wird von verschiedenen „Arten des Meinens“ sprechen), dann ist die Erwartung einer exakt äquivalenten Übersetzung schon im Ansatz ein Irrtum. Ähnlich wie beim Vergleichen die ganze Angelegenheit nur Sinn macht, wenn es sich bei den Vergleichsgrößen nicht um Gleichzusetzendes handelt, verhält es sich auch beim Übersetzen: „If there were a perfect equivalence from language to language, the result would not be translation; it would be a replica“, um noch einmal Emily Apter zu zitieren.

Nun ließe sich auch jeder Eintrag in Cassins Dictionnaire ebenso wie in Sanders’ Sammlung übersetzen – nur eben nicht in exakt derselben Prägnanz und Kürze. Wir erwarten von der idealen Übersetzung aber offenbar genau das: dass sie semantisch so kongruent und dabei formal so ähnlich wie möglich sein soll. Unübersetzbarkeitsbefunde verweisen also auf unausgesprochene Vorverständnisse und Ausgangsunterstellungen. Das Untranslatable heißt so, weil in anderen Sprachen noch jene lexikalische Lücke besteht, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einer Sprache gefüllt worden ist – und wir das Dilemma der Unübersetzbarkeit am liebsten auf der lexikalischen, nicht auf der syntaktischen Ebene gelöst hätten. Mit anderen Worten: Schon hier, vermeintlich jenseits spezifisch sprachkünstlerischer Übersetzungsaporien, stellt sich das Problem der Unübersetzbarkeit auch als eines der sprachlichen Verdichtung. Vor der Negativfolie des „Unübersetzbaren“ erweist sich die Vorstellung von Übersetzbarkeit als qualitatives Ideal: möglichst viel semantische Äquivalenz in möglichst ähnlicher sprachlicher Form. Es liegt auf der Hand, dass exakt dieses Dilemma in der literarischen, zumal in der Lyrikübersetzung seine Zuspitzung erfährt.

 

II

Es dürfte hilfreich sein, grundsätzlich zwei Arten von Unübersetzbarkeit zu unterscheiden: die lexikalische und die strukturelle. Ersteres, das Untranslatable als Form semantischer Inkongruenz auf Wort- beziehungsweise Begriffsebene, scheint dabei als Prototyp des Unübersetzbarkeitsdiskurses zu fungieren, wohl weil sich das „unübersetzbare“ Einzelwort besonders eignet, Probleme des Sprachtransfers exemplarisch vor Augen zu führen. Doch auch hier gilt: Das Unübersetzbare ist ein Angrenzungsbegriff, immer schon auf die Relation zwischen Sprachen ausgerichtet. Wer „unübersetzbar“ sagt, hat den Raum der Einzelsprache schon verlassen. Das Unübersetzbare ist das Unisolierbare.

Problemstellungen des literarischen Übersetzens aber gehen über die Einzelwortebene hinaus und liegen gerade in der konflikthaft werdenden Gleichzeitigkeit von semantischen und außersemantischen Sprachdimensionen wie Rhythmus, Klang, Intertextualität, Allusion, (Typo)Grafie und sprachlicher Selbstreferentialität. Der klassische Text für die aus diesem Befund gewonnene Unübersetzbarkeitskonzeption ist Roman Jakobsons Aufsatz On Linguistic Aspects of Translation von 1959. Jakobsons berühmte Formulierung lautet: „The pun, or to use a more erudite, and perhaps more precise term – paronomasia, reigns over poetic art, and whether its rule is absolute or limited, poetry by definition is untranslatable. Only creative transposition is possible: either intralingual transposition – from one poetic shape into another, or interlingual transposition – from one language into another, or finally intersemiotic transposition – from one system of signs into another, e.g. from verbal art into music, dance, cinema, or painting.”[8] Weil also in der Dichtung das Wortspiel vorherrsche, so Jakobson, sei sie per definitionem unübersetzbar; möglich sei allein „schöpferische Übertragung“.

Es ist eine nachträgliche Pointe, dass Jakobson, wie Derrida und andere nach ihm, in seinem kurzen Text eine Denkbewegung von einem Pol zum anderen vollzieht, in diesem Fall von der Zurückweisung einer Unübersetzbarkeitsbehauptung zu deren kategorischer Bejahung unter neuen Vorzeichen. „Jede Annahme, daß es Erkenntnisse gäbe, die unaussprechbar oder unübersetzbar seien, wäre ein Widerspruch in sich selbst“, heißt es da zunächst. Was für Erkenntnisse gilt, verkehrt sich für Jakobson aber offenkundig bei Dichtung in sein Gegenteil (und man darf wohl ergänzen, auch bei jeder Prosa, in der sprachliche Kategorien jenseits der Semantik ästhetisch wirksam werden).

Indem Jakobson also zwischen immer übersetzbarer Erkenntnis und nie übersetzbarer Dichtung unterscheidet, lenkt er den Blick auf eine zentrale Eigenschaft der Kunst, deren Art, Erkenntnis zu stiften, sich von nichtkünstlerischer fundamental unterscheidet, indem sie gerade nicht „erklärt“, sondern „erkennen macht“. Kunsterkenntnis ist notwendig performativ. Dividiert man diese performative Ebene aus der Gleichung, kürzt man, in Jakobsons Wortwahl, ihr Definiens raus.

Weil dies für Jakobson bedeuten würde, aus (Sprach)Kunst Nichtkunst zu machen, fordert er kategorisch den Umweg ein, der als „creative transposition“ der sprachlichen Form wieder zu ihrem Recht verhilft.[9] „Unübersetzbarkeit“ in dieser Perspektive ist also ein Sprechakt mit doppelter Implikation: Er formuliert die Einsicht, dass der gerade Weg zu einer zielsprachlichen Fassung versperrt ist, und fordert genau deshalb dazu auf, einen ungeraden zu finden. Er negiert nicht die Möglichkeit von Übersetzung, sondern die einer auf der Hand liegenden Ideallösung, während er zugleich die Vorstellung von diesem Ideal als regulative Orientierung präsent hält. „Unübersetzbarkeit“ wird so zum Aufforderungsbegriff: Er zielt nicht auf resümierende Stillstellung, sondern vielmehr erst auf die Ingangsetzung sprachlicher Prozesse. Er reformuliert die Aufgabe des Übersetzers angesichts von Aporien als einen Zwang zur problembewussten Kreativität. Mit anderen Worten: Der Unübersetzbarkeitsbefund mobilisiert gegen sich selbst. Und hier, im Aushandlungsraum der (Un)Übersetzbarkeit, konstituiert sich Literatur als Aktivität: lesend, schreibend, weiterschreibend.

Zum Beispiel bei Reynaldo Jiménez, einem der herausragenden Vertreter des lateinamerikanischen neobarroco. Seine genüssliche Sabotage syntaktischer Ordnungs- und Begrenzungsregeln, die Lust am Hypertrophen, die Ersetzung logischer Verknüpfungen durch sprachmaterielle Bezugssysteme, überhaupt die überragende Bedeutung von Klang und Rhythmus für die assoziative Modellierung der Gedankengänge muss jede Übersetzung vor Aporien führen. Die Reaktion seines deutschen Übersetzers Léonce W. Lupette? Eher unverdrossen.

 

una canción del valle que llega sin obstáculos

hasta tu cueva mientras te habitan bichos

que ni sabrías palabrejas verboides carabajos

lo gran distraído serías fuera de tu zona

adonde pensamientos anfibios se cultivan

capaces de hundirse hasta las heces si

hicieses eses en la evaporación del odio

del demonio simple que hace cosquillas

palatales sus instrumentos sólo una vez

pueden usarse

 

ein Lied aus dem Tal das mühelos

zu Deiner Höhle gelangt während Geziefer Dich bewohnt

das Du nicht einmal ahnst Worthülsen Unworte Ppichkäfer

das groß Zerstreute wärst Du außerhalb Deines Gebiets

wo amphibische Gedanken gezüchtet werden

fähig in den Fäzes zu versinken wenn

Du Fetzen in die Grollverdunstung

dieses simplen Dämons kläfftest der am Gaumen

kitzelt seine Instrumente können nur ein einziges Mal

verwendet werden[10]

 

Lupette gelingt es, alle zentralen Kompositionsprinzipien des Ausgangstexts in der deutschen Fassung zu re-inszenieren: die Irritation von Subjekt-Objekt-Relationen; die Auflösung von Phrasierungsgrenzen in ein beständiges Überfließen; die klanggestützte Assoziationsdynamik, in der die Wörter sich gegenseitig hervorzubringen scheinen. Und wo die Homophonien zur regelrechten Echofolge getrieben werden („se cultivan / capaces de hundirse hasta las heces si / hicieses eses“), geschieht das auch im deutschen Text. Nur: Die Alliterationen verknüpfen teils andere Lexeme (fähig, Fäzes, Fetzen), und wo Jiménez „eses“, also S-Laute zischen lässt, werden im deutschen Text Fetzen gekläfft. Warum?

Weil es der Übersetzer so entschieden hat. Weil Lyrikübersetzung kein Kreuzworträtsel ist. Es gibt für Lupettes Variante ebenso wenig eine Zwangsläufigkeit wie für jede andere. Es gibt stattdessen: Personalstil. Die Aporien der Lyrikübersetzung sind gerade nicht objektiv „lösbar“. Übersetzerische Lösungen sind vielmehr das Ergebnis von Entscheidungen, die im Idealfall aus möglichst präziser Einsicht in die jeweiligen ästhetischen, nicht selten auch ethischen und weltanschaulichen Dilemmata getroffen werden. Das bedeutet immer auch, Schwerpunkte zu setzen, einen Text unweigerlich ins Eigene zu holen. Deshalb sind Lyrikübersetzungen immer auch Teil des eigenen Werks: Texte, die in größtmöglicher intertextueller Abhängigkeit stehen, aber immer auch Ergebnis einer individuellen (Übersetzungs)Poetik sind. It does matter who speaks.

Darum darf man, selbst wenn Lupette Jiménez’ Wortverschraubung „verboides carabajos“ in nahezu exakter formaler wie semantischer Entsprechung ins Deutsche bringt („Unworte Ppichkäfer“), auch hier ein subtiles Echo von Lupettes eigenen Schreibverfahren mithören. Die deutsche Großschreibung unterbricht das typisch romanische Überbinden graphisch getrennter Einheiten und führt die Aussprache ins Stocken: „Ppichkäfer“, ein gleichsam versehrtes, sich im Ansatz aufstauendes Wort, wie es Lupettes eigenen Gedichten entstammen könnte.[11] Noch wo die Übersetzung den Ausgangstext in größter Strenge überträgt, weist sie ihre eigene Signatur auf: die der Zielsprache ebenso wie der individuellen Übersetzungspoetik.

Dass zwischen Lyrikschreiben und Lyrikübersetzen keine feste Trennlinie existiert, wird besonders augenfällig in Dagmara Kraus’ Übersetzungen von Joanna Muellers Lyrik. Diese kreist um die Verbindung von Feminismus und Mutterschaft, um in starker Opposition zum konservativ-reaktionären Familiendiskurs in Polen ebenso wie zur katholisch-nationalistischen Identitätspolitik ein emphatisches Bekenntnis zur Mutterrolle zu behaupten. Muellers Spektrum reicht dabei von der (intertextuell wie sprachphilosophisch überformten) Ausdruckslyrik bis zur Konzeptuellen Dichtung, deren sprachspielerische Dynamik sich zur ideologiekritischen Parodie überdrehen lässt.[12]

 

formatka

pramatka prymatka heimatka

sublimatka aromatka amalgamatka

fantazmatka miazmatka symptomatka

Durch 17 Zeilen und 49 verballhornte Komposita lässt Mueller die „matka“ wandern, bis sie als „szaranagamama“ intertextuell bei einem ebenfalls mamafizierten Miron Białoszewski ankommt. Dagmara Kraus hingegen, so schreibt sie in einem Essay zu ihren Mueller-Übertragungen, lässt eine ihrer Übersetzungsvarianten auf gut den doppelten Umfang anwachsen, bevor sie am Ende wieder bei der formalen Spiegelung des Ausgangsgedichts ankommt.[13] Einmal angeworfen und heißgelaufen, macht die Wortfindungsmaschine die formatka zur formatroschka in mehreren Varianten.[14] Jakobson wäre vermutlich ganz einverstanden gewesen.

 

III

Um noch einmal höhere Einsätze geht es, wo sprachliche Unterschiede identitätspolitisch aufgeladen und essentialisiert werden; wo Un(üb)ersetzbarkeits-Postulate in Hierarchisierung von Sprachen und die Verschiebung von der Sprache auf die Sprecher zu Mechanismen der Exklusion führt. Selbst Schleiermacher, der einen ausgesprochen dynamischen Sprachbegriff hatte und bis heute einer der anregendsten Denker in Übersetzungsfragen geblieben ist, hielt es an diesem Punkt mit der Ursprungsemphase einer angeblich einheitlichen, quasinatürlichen Muttersprache (die bei ihm allerdings die „vaterländische“ hieß). Und wo weite Teile seiner Akademie-Rede über die Methoden des Übersetzens zum Innovativsten gehören dürften, was das 19. Jahrhundert zum Thema beizutragen hatte, wirken die Passagen zum Ende hin für heutige Ohren fast unfreiwillig komisch. „Wie Einem Lande“, heißt es bei Schleiermacher, „so auch Einer Sprache oder der andern, muß der Mensch sich entschließen anzugehören, oder er schwebt haltungslos in unerfreulicher Mitte.“ Mehrsprachigkeit erscheint Schleiermacher geradezu als sicherer Weg in die Persönlichkeitsspaltung, und wer diese „frevelhafte und magische Kunst“ dennoch betreibe, erscheine wie der Doppelgeher, der „nicht nur der Gesetze der Natur zu spotten, sondern auch Andere zu verwirren“ gedenkt – eine Sorge, die Uljana Wolf in der lyrischen Auseinandersetzung mit „mr. veilmaker“ ihrerseits zu einer spöttischen Würdigung veranlasste.[15] Wolf ist nicht nur die Übersetzungspoetologin der deutschen Gegenwartslyrik, sondern auch eine virtuose Übersetzerin mehrsprachiger Literatur, die wohl als sichtbarster Einspruch gegen die Hypostasierung der einen Sprache gelten darf.

Zum Beispiel Erín Moure. Schleiermachers gefürchteter Schwebezustand zwischen der einen und der anderen Sprache ist ihr der begehrenswerteste: inmitten, im „dritten Raum“ der Transitzone, über sprachfamiliale Grenzen hinweg.[16] Nicht die angloromanische Zweisprachigkeit ihrer Heimatstadt Montréal, sondern die Begegnung des Englischen mit dem Portugiesischen und seinem Vorläufer, dem Galicischen der mittelalterlichen trobadores, ist das Projekt ihres Bands O Cadoiro. Seiner leitenden Metaphorik nach eine Feier des (sprachlichen) Zusammenfließens, beginnt der Band mit einer klammheimlichen Initiation. Wie ein klassisches Reisegedicht und zunächst noch ganz dem Englischen verhaftet, erscheint der Eröffnungstext ohne formale Auffälligkeiten. Doch in die nächtliche Stille, die er bildlich evoziert, wird gleichsam ein fremder Zungenschlag geflüstert (oder besser: gehaucht, weil die Atmung der Lungen ebenfalls ein Schlüsselmotiv des Bandes ist).[17]

 

[…]

The city of Lisbon is asleep.

The Phoenician city is asleep and the Roman city is asleep

It is Sunday and the city of Lisbon

breathes like a lung

breathes like a lung

asleep on its side

 

a dog asleep on its side in a house in the Lapa

a chandelier on its side in the Bairro Alto.

25 Janeiro 2004

 

Tejo, Lapa, Bairro Alto – es sind die Eigennamen, das also, was meist auch über Sprachgrenzen hinweg konstant bleibt (wenn man nicht gerade Schleiermacher verveilmakert), diese ursprünglichste und direkteste Form des Sagens, die hier den romanischen Ton ins Englische tragen, bis nach der Topografie auch die Zeit – „janeiro“ – in neuen Koordinaten steht. Was sodann über den Band hinweg erfolgt, ist ein Eintauchen, Eingetauchtwerden der Gedichtsprache in den semantophonetischen Raum der höfischen Lyrik Galiciens, die in authentischen und imitierten Archivzitaten der cancioneiros erscheint und das Englische als Basissprache einer durchaus schleiermacherschen „foreignization“ unterzieht. Nicht in Form von Fremd- und Lehnworten kommt die trobadore-Dichtung in Erín Moures Englisch, sondern als phonetische Chromatik, als Verflüssigung der Wortzwischenräume, als orthografische Mittelalterreferenz, die aber – das ist entscheidend – auf keine historische Vorstufe rekurriert, sondern mit lyrischen Mitteln ein merging der Regelsysteme inszeniert. Bis an den Punkt, wo das Portugiesisch-Galicische im Gedicht die Oberhand gewinnt. Wird dann, in Uljana Wolfs Part, eigentlich noch „aus dem Englischen“ übersetzt?

Indem mehrsprachige Lyrik die Unterschiede der Idiome ästhetisch produktiv macht, ja den code switch ins Zentrum des ästhetischen Geschehens rückt, ist sie immer schon implizit übersetzungsreflexiv. Und sie ist auf ihre ganz eigene Weise unübersetzbar, weil die Relation zwischen den Sprachen eine je spezifische ist und „die Machtbeziehungen und historischen oder linguistischen Abstände zwischen den verwendeten Sprachen kaum übertragen werden können“.[18] Was also tun? Siehe oben, Roman Jakobson.

 

[290_50] #350

Johan Lopez D Ulhoa

 

Dass uns mal die leichtigkeit nicht verloren geht

Tristamor d tr~es!

Ich möchte ein leben notieren, rufen.

Tristamor q nõ podemos andar

 

Together – in dies’m moment –

Trees?   Bäume?

 

Tʒischen.

Bäume.

Tʒischlaut. Lautʒisch.*

 

* Die Troubadora wiederholt und korrigiert ihr Lied.[19]

 

Das Unübersetzbare als Einzigartigkeit der Ausgangssprache ist ohnehin nur die halbe Wahrheit. Denn da ist auch das Komplementäre, die Unausweichlichkeit der Zielsprache. Müesser Yeniay gehört zu den wichtigen jüngeren Stimmen der türkischen Gegenwartslyrik. Neben dem politischen Zeitgedicht prägen ihr Schreiben vor allem existentialistisch-überzeitliche Reflexionen, die der phonetischen Orchestrierung großen Wert beimessen. Wie Achim Wagner in seinem Werkstattbericht zur deutschen Übersetzung von Yeniays Lyrik anschaulich schildert, spielt sie dabei mit den Gesetzen der türkischen Vokalharmonie.[20] Nicht als literarisches Stilmittel, sondern bereits der Grammatik nach ist das Türkische auf vokalischen Gleichklang aus. Die Assonanz ist nicht künstlerischer Sonder-, vielmehr alltäglichster Normalfall. Wenn ich Achim Wagner richtig verstehe, nimmt Yeniay nun nicht einfach diese Klanglichkeit als Dekoration, sondern betreibt im dialektischen Wechselspiel mit dem inhaltlich Gesagten eine Semantisierung der Form – ein Effekt, den Wagner im Deutschen mit zwangsläufig anderen Mitteln und ohne Bezug zu grammatischen Vokalisierungsregeln kreieren muss. Nur liegt das eben nicht daran, dass Vokalharmonie eine exklusive und damit generell unübersetzbare Eigenschaft des Türkischen wäre (was es nicht ist), sondern daran, dass das Deutsche sie nicht kennt.

 

                         karanlık bir yumak gibi

hep içime doluyor

 

gecede kimse yok

dirilmek isteyen bir ölü beden

 

ışığım parçaladı karanlığı

 

 

die Dunkelheit strömt stets

wie ein Knäuel in mein Inneres

 

in der Nacht niemand

ein toter Körper der auferstehen will

 

mein Licht zerschlägt die Dunkelheit

Solche Unausweichlichkeiten zielsprachlicher Parameter liegen nicht allein im jeweiligen Sprachsystem. Unweigerlich aufgerufen werden auch die jeweilige Geschichte einer Sprache und die historischen Konnotationen ihrer Wörter.

Auch Max Czolleks Lyrik schreibt sich von dieser Einsicht her, mit einem lyrischen Ich, das, „den hals voller geschichte“, fragt, ob „19:45 bloß eine Uhrzeit“ ist, und das den assoziativen Abgrund in Wörtern wie „bombenwetter“ und „granatäpfel“ kennt. Das Wissen um „die zündschnur […] / die von den worten in die vergangenheit reicht“, prägt dann auch Czolleks Übersetzungen aus dem Werk der israelischen Lyrikerin Adi Keissar. Schwarze Magie ist ein Schlüsselgedicht zur Poetik Adi Keissars mit seinem Spoken-Word-Drive, der Liebe zur grellen, kraftvollen Metapher, einem herausfordernden Gestus, der dem bürgerlich-konventionellen – und das heißt bei Keissar immer auch: von der weißen Mehrheitsgesellschaft dominierten – Lyrikverständnis einen anspielungsreichen Sound der Street Credibility entgegenhält.[21]

 

וְלֹא מְפחֶדֶתַ מֵהַחֹשֶׁךְ שֶׁעֲשִׂיתֶם

 יֵשׁ בִּי מִילְיוֹן כּוֹכָבִים

שֶׁיּוֹדְעִים לְאָן הוֹלְכִים

תִּזָּהֲרוּ מֵהָרָעָב שֶׁלִּי

הוּא עוֹד יַפִּיל

לָּכֶם אֶת הַבִּנְיָנִים

הַמִּלִּים שֶׁאֲנִי מַתִּיזָה

לְרַסֵּס גְּרָפִיטִי מילים

בִּתְעָלוֹת הָאָזְנַיִם שֶׁלָּכֶם

בִּמְלֵא צְבָעִים

זה קסם שחור

 

ich habe keine Angst vor euren Schatten

ich trage Millionen Sterne in mir

die wissen, wohin es geht

nehmt euch in Acht vor meinem Hunger

er wird Gebäude

niederreißen

meine Worte

sprühen Graffiti

in eure Gehörgänge

eine Million Farben

das ist Schwarze Magie

 

Wenn Czollek zu dem Bild der „Millionen Sterne“ anmerkt, dass es in der deutschen Fassung mit dem Eintritt in den Hallraum deutscher Geschichte eben auch die Assoziation des Judensterns aufrufe, und zwar obwohl bei Keissar etwas ganz anderes gemeint ist („eine Referenz auf Diskokugel, Popkultur oder arabische Liebeslyrik“), verbirgt sich darin eine doppelte Pointe. Zum einen wird deutlich, worum es auch Czolleks Lyrik mit ihrer Sprachidiosynkrasie geht: die psychologische Eigendynamik der Kontextinterferenz, die sich gerade nicht unter Verweis auf ein „eigentlich Gemeintes“ ausbremsen lässt. (In Variation eines Alexander-Kluge-Worts könnte man vom Antirealismus der Assoziation sprechen und müsste dazusagen, dass sie in eine andere Realität, die Präsenz historischer Erinnerung, führt.) Zum anderen: Czolleks Überlegung findet offenkundig nicht auf der Ebene übersetzerischer Alternativensuche statt, denn unabhängig davon, ob man seine Assoziation teilt, bleibt „Sterne“ ja als deutsche Entsprechung von Keissars Wendung unumstritten. Czolleks Diskussion dieser Textstelle ist vielmehr ein Beispiel für eine zentrale Funktion von Übersetzungsreflexion jenseits der Frage nach der besten übersetzerischen Lösung: Das Nachdenken über translatorische Phänomene ist immer zugleich ein Ausloten der (In-)Kongruenzen zwischen den Sprachen und den einzelnen Poetiken. Und sie ist für Dichter-Übersetzer immer auch poetologische Selbstverständigung. Max Czollek: „Gerade in der Ambivalenz aus Nähe und Fremdheit bleiben Adi Keissars Texte nicht ohne Wirkung auf mein Bewusstsein als Lyriker. Und wenn eine Übersetzung den Effekt hat, solch eine reflexive Bewegung anzustoßen, dann kommt sie einer Transformation näher, als ich sie in der Lyrik eigentlich für möglich halten würde.“

Nun können sich Schreiben und Übersetzen immer auch kontrastiv ergänzen. Hans Thills Gedichtband Ratgeber für Zeugleute, der sich als große Meditation über das Enjambement verstehen lässt, entsteht in einer Zeit, in der sich der Übersetzer Hans Thill intensiv mit dem formalästhetischen Gegenpol befasst, der korrespondenzrhythmischen Endreimdichtung. Auch das anti-islamistische Protestlied des tunesischen Lyrikers Aymen Hacen gehört hierher.

 

Hé dites vous qui de tout tout croyez

Savoir ou vouloir ou pouvoir oyez

Nous sommes preux avec tous les vrais pieux

Vagabonds et méchants aux coups bien copieux

Avec les traîtres les lâches les fous

Faisant de la foi folie et marabout

Sachez que nous sommes vos garde-fous

Et que des assassins nous sommes l’embout

 

Auf Französisch verfasst, spielt der Text des Arabisch-Übersetzers Hacen mit zentralen Elementen der klassischen arabischen Gedichtform, der Kasside (beziehungsweise mit der Art und Weise, wie diese in europäischen Übertragungen erscheint): strophenlose Paarigkeit der Verse (oder Halbverse), Wiederkehr desselben Endreims (im Arabischen streng als Monoreim), stark oraler Charakter, polemischer Angriff auf den politischen Gegner und Lobpreis der Verbündeten. Wie das ins Deutsche holen? Thill entscheidet sich, die formalen und performativen Elemente in einen veritablen Deutsch-Rap zu transponieren, wie er das bereits zuvor in einer Co-Übersetzung von Mohammed al-Ajamis Jasmingedicht getan hat. Und im Verhältnis zum Ausgangstext mit seinen kulturspezifischen Elementen öffnet sich zugleich ein Blick auf dessen universelle Dimensionen: Man muss nur die Merkmale des Ausgangstexts hip-hop-typisch benennen, und aus den Klangketten werden spits, aus den Verswiederholungen hooklines, und das Spiel mit Verbalangriff und Verbrüderung erscheint als Dissen der Gegner plus bragging and boasting im Schulterschluss mit den homies.

 

Heh, sagt doch mal Ihr Alles-Allesglauber

Vor allem an Euch selbst glaubt Ihr Abstauber

Wir sind nicht zimperlich mit echten Religiösen

Den Obdachlosen, Schlägern und Buben, den bösen

Mit Verrätern Feiglingen Schwachsinnsleuten

Für die der Glauben Wahn wird, Marabouts von heute.

Eins sollt ihr wissen, wir sind die Wächter eurer Gummizelle

Wie wir auch jeden Killer wittern auf die Schnelle[22]

 

Kann man sich einen solchen Text in einem Thill-Gedichtband vorstellen? Das Sprechen mit anderer Stimme heißt auch, sich Sounds und Formen zu erschließen, die nicht die eigenen sind.

Einer der wichtigsten Effekte der Auseinandersetzung mit dem Unübersetzbaren liegt in der Rückwirkung aufs eigene Schreiben. Und erst das Widerständige der Übersetzungsaporie lenkt den Blick auf die tieferliegenden Unterschiede zwischen den Sprachen. Nicht zufällig ist die Keimzelle von Uljana Wolfs jüngerer Lyrik der false friend, die Kurzformel unvermuteter, potentiell irreführender und zugleich poetisch faszinierender Abweichung. Wenn Uljana Wolf aus solchen Minimalpaaren semantischer Distinktion den Impuls zur eigenen sprachlichen Kreativität und zur lyrischen Übersetzungsreflexion bezieht; wenn bei Léonce Lupette interlinguale Homophonien zum Einfallstor für den code switch werden; wenn Dagmara Kraus die unfreiwillige Dada-Poetik von Aussprachelexika zutage fördert, dann bezeugt das die Erneuerungs- und Erweiterungskraft übersetzungsreflexiver Dichtung. Sind Texte aus der Sprachbegegnungszone die wohl größte Innovationsquelle für die Literatur der Gegenwart, ist die Geschichte der deutschen Lyrik im 21. Jahrhundert wesentlich eine ihrer Überschreitung.

 

IV

Die sichtbarsten Dimensionen des Unübersetzbarkeitsdiskurses sind die linguistische und die ästhetische. Doch geht es beim Übersetzen immer zugleich um die zentralsten Fragen überhaupt, die nach unserem Umgang mit Differenz. Übersetzen heißt, Differenz wahrnehmen, aushalten, verhandeln. Stärker als jede andere Kunstform sensibilisiert es deshalb gegen sektiererischen Furor wie gegen ignorante Gleichmacherei. Fragen des Übersetzens verknüpfen notwendig die sprachliche Ebene mit den politischen und ethischen Konfliktfeldern um Identität und Differenz. Sie führen vom Textdetail ins große Ganze und wieder zurück.

 

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Joanna Muellers Gedicht zaranna (in Mistyczne masthewy) evoziert einen dreifachen Anfang: Offenkundig ein Gedicht über die Geburt eines Kindes, ist es zugleich lesbar als klassisches Tagesanbruchsgedicht und als handfest erotisches Liebesgedicht – in der Schilderung der Geburt wird auch der Zeugungsakt noch einmal vergegenwärtigt. Das Gedicht trägt ein Datum, das der Leser auch dann als ein Geburtsdatum verstehen dürfte, wenn ihm die biografische Information fehlt, dass es dem Geburtstag von Joanna Muellers Tochter entspricht. Dagmara Kraus hat mir die erste Fassung ihrer deutschen Übersetzung ohne dieses Datum geschickt und, darauf angesprochen, erklärt, das habe sie wohl übersehen. Mag sein, dass das stimmt. Ich neige allerdings mehr zu einer anderen Deutung (und nehme als Bestätigung, dass die Angabe auch in der Druckfassung fehlt): Sie hat das Datum aus Pietät und präziser Lektüre weggelassen. Denn Muellers Gedicht hat auch eine vierte, poetologische Bedeutungsebene. In beinahe celanschem Sinne handelt es sich bei dem Datum auch um das Datum des Gedichtes selbst, das Geburtsdatum dieses Textes. Und wenn dem so ist, kann es nicht zugleich Datum des übersetzten Textes sein.

Das Unübersetzbare liegt manchmal auch jenseits der Buchstaben.

 

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[1] Ohne die Gespräche mit den Autor_innen der Veranstaltungsreihe „inter_poems“ sähe dieser Essay anders aus, womöglich wäre er ohne sie gar nicht erst geschrieben worden. Deshalb gilt mein Dank Joanna Mueller, Dagmara Kraus, Adi Keissar, Max Czollek, Aymen Hacen, Hans Thill, Erín Moure, Uljana Wolf, Müesser Yeniay, Reynaldo Jiménez und Léonce W. Lupette.

[2] Jacques Derrida: Le monolinguisme de l’autre. Paris: Éditions Galilée 1996. Ganz ähnlich auch im Essay Qu’est-ce qu’une traduction „relevante“?. In: Quinzièmes Assises de la Traduction Littéraire. Arles: Actes Sud 1999.

[3] Vgl. Eva Geulens Besprechung Begriffsgeschichten go global (or try to). In: Merkur, Nr. 788, Januar 2015.

[4] Jacques Derrida, Die Einsprachigkeit des Anderen. München: Fink 2003.

[5] Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens. In: Ders., Kritische Gesamtausgabe. Akademievorträge. Berlin: de Gruyter 2002.

[6] Michael Wetzel, Alienationen. Nachwort zu Derrida, Einsprachigkeit, a.a.O.

[7] Emily Apter, Preface. In: Barbara Cassin (Hrsg.), Dictionary of Untranslatables. A Philosophical Lexicon. Princeton University Press 2014; vgl. auch Emily Apter, Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London: Verso 2013.

[8] Roman Jakobson, On Linguistic Aspects of Translation. In: Lawrence Venuti (Hrsg.), The Translation Studies Reader. New York: Routledge 2004. In deutscher Übertragung: „Das Wortspiel oder – um einen gebildeteren und vielleicht genaueren Terminus zu gebrauchen – die Paronomasie herrscht in der Dichtkunst vor, und Dichtung ist, ob ihre Vorherrschaft nun absolut oder eingeschränkt ist, per definitionem unübersetzbar. Möglich ist nur schöpferische Übertragung: entweder die innersprachliche – von einer dichterischen Form in eine andere – oder die zwischensprachliche – von einer Sprache in eine andere – oder schließlich die intersemiotische Übertragung – von einem Zeichensystem in ein anderes, zum Beispiel von der Sprachkunst in die Musik, den Tanz, den Film oder die Malerei.” (In: Jakobson, Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982. Hrsg. von Elmar Holenstein. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988.)

[9] Vgl. Angela Sanmann, Poetische Interaktion. Berlin: de Gruyter 2013. Höchste Zeit, an dieser Stelle meinen größten Dank loszuwerden. Von Angela Sanmann habe ich mehr übers Übersetzen gelernt als von irgendjemandem sonst.

[10] Reynaldo Jiménez, Pieza. In: Ders., Plexo. Mexico City: Libros Magenta 2009. Deutsch von Léonce W. Lupette, erstveröffentlicht im Rahmen von inter_poems.

[11] Zum Vergleich ein Passus aus dem Zyklus Jena (Teil IV, erschienen in Ostragehege Nr. 80, 2016), im intertextuellen Dialog mit Celan und Hölderlin: „Ein ganzer Zuzu-sammen-ammenhang ist aus der Ferne / herausgefallen-fa-fehlt dadurch nurmehr noch mehr her / ausgebrochen sto-tochern-stockt der sich zurückzog der / Kapselung ab aber vorzog den Wegzug zunächst fuchsfern / dann führtes ihn andrig turmwärts in Zimmer mit Scheiben / die brechen den Blick in den Neck-tar hinein dieser Schwalbe / zurück einen wichtigen Jänner (…)“.

[12] Joanna Mueller, Mistyczne masthewy/Mystische musthaves. Aus dem Polnischen v. Karolina Golimowska u. Dagmara Kraus. Wiesenburg: hochroth 2016.

[13] Dagmara Kraus, „… grammatickt mamal aus …“. Notizen zu Poesie und Mutterschaft anlässlich der Übersetzung Joanna Muellers. In: Merkur, Nr. 808, September 2016.

[14] Für eine davon vgl. Joanna Mueller, Mistyczne masthewy, a.a.O.

[15] Uljana Wolf, doppelgeherrede. In: Dies., meine schönste lengevitch. Berlin: kookbooks 2013.

[16] Homi K. Bhabha, Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung. Wien: Turia + Kant 2012.

[17] Erín Moure, O Cadoiro. Poems. Toronto: Anansi Press 2007.

[18] So Uljana Wolf in Translantische Tapisserien. Zu Erín Moures „O Cadoiro“ und zum Übersetzen mehrsprachiger Lyrik. In: Merkur, Nr. 807, August 2016.

[19] Erín Moure, O Cadoiro. Übersetzt u. hrsg. v. Uljana Wolf. Schupfart: roughbooks 2016.

[20] Müesser Yeniay, Üvey Dünya und dazu Achim Wagner, Diese Welt ist stief. Beide in: Merkur, Nr. 810, November 2016.

[21] Adi Keissar, Schwarze Magie und dazu Max Czollek, Adjektiv-Literatur oder die Bedingungen jüdischer Lyrik. Beide in: Merkur, Nr. 811, Dezember 2016.

[22] Aymen Hacen, Hé dites vous … In: Ders., Tunisité, suivi de Chroniques du sang calciné et autres polèmes. Gardonne: Federop 2015; Deutsch von Hans Thill, erstveröffentlicht im Rahmen von inter_poems. Vgl. auch Aymen Hacen, Litanies à Lumumba und dazu Hans Thill, Luma Luma. Beide in: Merkur, Nr. 809, Oktober 2016.