Sicherheitsring

Sicherheitsring

Über Timo Bergers Gedicht „Botanischer Garten“

Timo Berger: Botanischer Garten

Kein Papageiengespött, kein nackter

Wilder, die ersten Bilder von der Stadt

am Januarfluss stellen sich mit leichtem

Rotstich ein: Giselle und ihre Auto

Liebe: ein landeifarbener Käfer trägt

die Nouvelle Vague heiser schnurrend

durch die Kurven: in dieses Gefährt

macht mir kein Taxi-Boy Flecken

Gegen den Rückspiegel klatscht Elvis

The King, aus Hartgummi, ein Sex

Versprechen, während sich hinter uns

eine weiß gelackte Schranke senkt

Der erste Sicherheitsring, wir leben

sagt Giselle, auf der Habenseite

der Stadt, die unten in den Tälern

jede Nacht die Nacht überfällt

Nein, kein nackter Wilder. Und Gespött gilt allenfalls dem Klischee. Aber so entschlossen das Gedicht die plumpen Dichotomien gleich zu Beginn beiseite wischt, so sehr wehrt es sich gegen das Übersehen tatsächlicher, sozialer Gegensätze. Unterschiede, die unverkennbar (und, wenn es das gibt, unverschweigbar) sind für den, der kritisch und „mit leichtem / Rotstich“ sieht.

Da kommt also einer in die „Stadt / am Januarfluss“, sprich: Rio de Janeiro. Ein Städtename, ironisch eingeführt im Reiseführer-Jargon. Doch Bergers Brasilien-Ankömmling wird in eine westeuropäische Luxuswelt kutschiert, die sich inmitten ihrer tropischen Umgebung so exotisch ausnimmt wie Pflanzenimporte im botanischen Garten, diesem Inbegriff gezüchteter Naturwüchsigkeit. Schon die Personennamen, Namen überhaupt weisen auf eine großbürgerliche Wohlstandszone, unbeirrt angesteuert von Giselle, der Haute-Couture-Dame mit dem Namen einer Ballettfigur und dem Auto als wichtigstem Gefährt(en). Überhaupt dieser Käfer: Sinnbild einer privilegierten Lebenswelt, in der der Natürlichkeitsanteil auf eine sprachliche Übertragung zusammengeschrumpft ist.

Allerdings gilt das nur scheinbar. Denn unter der fleckenlosen Oberfläche pulst es gewaltig. Und das kann man ganz wörtlich nehmen: Eine spürbar (auto)aggressive Note ist den erotisch aufgeladenen Bildern der Mittelstrophen beigemischt. Das Gelackte und Geleckte wird unterlaufen von einer mühsam gedeckelten Triebhaftigkeit. Giselles herablassend-elitärer Habitus („in dieses Gefährt / macht mir kein Taxi-Boy Flecken“) geht einher mit einer zivilisatorischen Variante von Ikonenverehrung („Elvis / The King“), die handfest sexuell und doch seltsam verklemmt ist.

In diesen Zusammenhang gehört dann auch der Ausdruck „Nouvelle Vague“, hinter dem man wohl weniger seine filmgeschichtliche Bedeutung suchen muss, eher die wörtliche Übertragung in Brasiliens Landessprache mithören darf. „Bossa Nova“ auf Französisch also. Und egal, ob man als Leser nun in Giselles Autoradio die Pariser Band Nouvelle Vague hören will, die New Wave und südamerikanische Folklore kombiniert – die Welle selbst wird hier wichtig als sexuell konnotiertes Bild, als Evokation einer Auf- und Abbewegung, wie sie auch den Hartgummi-Elvis gegen den Rückspiegel schlagen lässt. Doch es hilft ja alles nichts: Die Wunschphantasien bleiben innerhalb des „Sicherheitsrings“ zwangsläufig unerfüllbar. Sie sind bloßes, schon im Wortkörper gebrochenes „Sex / Versprechen“.

Giselle aber einmal in Ruhe gelassen: Wie steht es um das Gedicht und dessen eigenes Dilemma? Denn wenn das gesellschaftskritische Anliegen in der Schluss-Strophe noch einmal überdeutlich wird, stellt sich auch die Gretchenfrage aller engagierten Lyrik umso nachdrücklicher. Man könnte sie, mit Bergers eigenen Worten, vielleicht so formulieren: Steht nicht das Gedicht selbst, auch das sozialkritische, automatisch „auf der Habenseite“? Ist seine Glaubwürdigkeit nicht immer schon korrumpiert, weil, wer die Bildung und die Muße hat für Lyrik, doch offenbar selbst privilegiert ist? Als Totschlag-Argument gegen literarisches Engagement ist dieser Vorwurf so alt wie untauglich. Aber er formuliert doch eine Anforderung, fungiert als Maßstab. Begegnen lässt sich ihm womöglich nur mit einer Schreibweise, deren kritische Perspektive auch den eigenen Standort miteinschließt oder drastischer formuliert: mit einem Schreiben, das die Worte selbst verdächtigt.

Mit wie viel Problembewusstsein Bergers Gedicht geschrieben ist, zeigt sich vielleicht am deutlichsten im Schlussbild, das zutiefst ambivalent wird, wo auch die Wirklichkeit nicht Schwarz-Weiß malt. Wo Giselles Rede endet, setzt das Sprecher-Ich fort, mit einer Ergänzung, die im wahrsten Wortsinn ein Relativ-Satz ist, weil sie die isolierende, simplifzierende Sicht nicht zulässt. Da wird zunächst noch einmal schonungslos Kritik geübt an der selbstgefälligen Ignoranz derer, die sich eingenistet haben „auf der Habenseite“. Etwas verklausuliert setzt das Gedicht hier seine boshafteste Pointe.

Was heißt es, wenn die Stadt „unten in den Tälern / jede Nacht die Nacht überfällt“? Doch offenbar, dass die Lichter und das Treiben der Metropole unten ihren Angriff auf die Stille und das Dunkel der Nacht starten, dass mit vollster Vehemenz Belebung stattfindet, während es oben steril bleibt und tot. Das Enjambement der viertletzten Zeile und die Unterbrechung von Giselles Satz – sie werden selbst semantisch. Dieses „wir leben“ steht zunächst tatsächlich für sich, und das Gedicht antwortet: Nein, eben nicht, weil ihr hinter der Schranke auch alle Vitalität ausgesperrt habt. Haben wird so zum Gegenteil von Sein, der Sicherheitsring zur Verhütung vor dem Leben.

Aber das ist nur die eine Stoßrichtung, die, wenn sie allein stünde, schon fast ein Euphemismus wäre. Unten, in der Armut, ist dann doch das wahre, das bessere Leben? Berger ist weit entfernt von solch verklärender Favela-Romantik. Zuerst und zuletzt redet das Schlussbild von dem, was es im letzten Wort des Gedichts unmissverständlich benennt: Überfall, Verbrechen, Gewalt. Die Brutalität dessen, was sich „unten in den Tälern / jede Nacht“ wiederholt, wird im Gedicht gerade nicht getilgt. Und das Leben „in den Tälern“ lässt sich nicht ausspielen gegen das im Sicherheitsring, weder in die eine noch in die andre Richtung. Auch das ist präzise gesehen; fast möchte man sagen: „mit leichtem / Rotstich“.

Der Essay erschien 2009 in der Online-Anthologie „Neuer Wort Schatz II„.