Babel Maps

Babel Maps

Zehn Thesen zum Übersetzen

Erschien zuerst in: Neue Rundschau 128 (2017/3), S. 205-208.

 

GEGENGIFT

Eine Zeit, in der Schlagbäume heruntergelassen und noch im Reden über Werte Mauern hochgezogen werden, hat das Nachdenken über die Tätigkeit des Übersetzens vielleicht besonders nötig. Wenn es Aufgabe einer Kunst auf der Höhe ihrer Zeit ist, Einspruch zu erheben gegen die neuen Grenzregime in den Territorien und Köpfen, ist die literarische Übersetzung als Grenzüberwindungskunst die Gattung der Stunde.

***

ÜBERTRITT

Eine Kunst der Grenzüberwindung ist die Übersetzung gerade, weil sie im Bewusstsein von (sprachlichen) Grenzen auf Durchlässigkeiten beharrt, auf einem Sprechen über Grenzen und über Grenzen hinweg. Weil sie Differenzen nicht negiert, sondern sich deren präziserer Vermessung und Hinterfragung verschreibt. In diesem Sinn hat Doris Bachmann-Medick das Übersetzungsideal einer „differenzbewussten Grenzüberschreitung“ formuliert. Man könnte auch sagen: solidarische Differenzbejahung, Komplexitätstoleranz.

***

ÜBER-SETZER

Das Wortspiel, das im Übersetzen ein Über-Setzen erkennen will, ist nur dann treffend, wenn es auf das Unterwegs-Sein, auf den Prozess statt auf ein Ergebnis abzielt. Denn ebenso wenig wie zwei Kulturen sich als feste Entitäten gegenüberstehen, so wenig ist Übersetzung eine Überführung von A nach B. Sie eröffnet vielmehr einen „third space“ (Homi Bhabha) dazwischen, einen Raum der Aushandlung und Interaktion, in dem Ausgangs- und Zielsprache, Original- und Übersetzerstimme unhintergehbar aufeinander bezogen bleiben, einen Raum vielfältiger Interferenzen. Der Ort der Übersetzung ist zwischen den Sprachen, zwischen den Literaturen. In der Begegnungszone zweier Poetiken.

***

AUFGABE

Übersetzung heißt Vermessen der fluiden Grenzen zwischen (vermeintlich) Eigenem und (vermeintlich) Fremdem. Sie ist ihrem Potential nach interkulturelle Praxis und transkulturelle Reflexion. Noch als gedruckter Text ist sie Ausdruck einer Tätigkeit, mit Benjamin: einer unabschließbaren Aufgabe. Mit Etienne Balibar: Erkundung der „différence dans l’égalité“.

***

BABELDIZEE

Was der Religion die Theodizee, ist der Übersetzungsreflexion das Unübersetzbare: das Problem der Rechtfertigung eines Glaubens an Übersetzbarkeit, obwohl doch schon zwei Muttersprachler niemals exakt dasselbe meinen, ganz gleich wovon die Rede ist. (Eine Einsicht, die nicht etwa dem Theoriebaukasten der Dekonstruktion entstammt, sondern seit Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher zum Grundbestand der Hermeneutik gehört.) Statt in Resignation zu münden aber provozieren Unübersetzbarkeits-Urteile zuverlässig die Gegenreaktion. Das Unübersetzbare fungiert als Induktionsbegriff: Er animiert den Leser zur vergleichenden Sprachreflexion, provoziert den Übersetzer zur kreativen Überwindung von (Schein-)Aporien. Nicht selten ist, wer Unübersetzbarkeit konstatiert, aufs Widerlegen, aufs Widerlegtwerden aus.

***

DISSENSETHIK

Der „ununterbrochene Dialog“ zwischen Derrida und Gadamer ist selbst eine sprechende Pointe der Philosophiegeschichte. Aus unterschiedlichen Denkrichtungen kommend, von radikal verschiedenen Lebenserfahrungen geprägt, aber gleichermaßen obsessiv befasst mit den Möglichkeiten und Grenzen des Verstehens, machen beide diese Obsession zum Thema ihrer Verständigung, die sich selbst exemplifiziert: als ein Ausloten eben jener Möglichkeiten im Bewusstsein einer nie ganz aufzuhebenden Distanz. Aber eben auch ein Dialog auf Grundlage wechselseitiger Wertschätzung, eine „Ethik des Dissenses“, hinter der die dogmatischen Epigonen auf beiden Seiten peinlich weit zurückfallen. Dabei haben Derrida und Gadamer im Grunde etwas sehr Simples getan: ein Gespräch geführt. Man könnte auch sagen: Sie haben sich jeweils den Anderen und dem Anderen sich selbst übersetzt. Das ist etwas sehr anderes als Horizontverschmelzung.

***

PERFOR(M)IERT

Ist es vage oder weise, wenn das altgriechische hermêneuein sowohl „verstehen“ als auch „übersetzen“ meint? Es bedarf jedenfalls keiner etymologischen Spielerei, um eine Familienähnlichkeit zwischen Übersetzung und Hermeneutik als zweier Verstehens- und Vermittlungskünste zu sehen. Für die Literatur verfehlt man allerdings das Entscheidende, wenn man einseitig die Parallelen zwischen beidem betont. Literarische Übersetzung ist performative Hermeneutik – und hermeneutische Performanz. Ein Interpretationsakt, der sich überhaupt nur als sprachliche Neuinszenierung manifestiert. In dieser Hinsicht ist, für das Übersetzen von Lyrik, der nicht-synonyme Begriff „Nachdichtung“ präziser: ein Schreiben, das zeitlich nachfolgt und als abgeleitetes in höchstem Maß auf (mindestens) einen Prätext bezogen bleibt; aber, wenn es gelingen soll, notwendig selbst Dichtung sein muss.

***

SPIEL

Das „jeu de différences“ bei Derrida und Schillers Spiel-Begriff sind sich in der zugrundeliegenden Denkfigur näher als es scheint. Beide begreifen Spiel als gedankliche Bewegung, als dynamisches Geschehen in einem Spielraum. Wo Schiller Idealist und Derrida Skeptizist bleibt, kennen doch beide im virtuosen Spiel das momenthafte Aufleuchten von Kongruenz und Differenzüberwindung in actu, auf dem Spielfeld der Kunst wie des philosophischen Gesprächs. In diesem Sinne sind Übersetzer_innen auch Spieler_innen: als aufgeklärte Idealisten und unverdrossene Skeptizisten.

***

KALENDERSPRUCH

Wer übersetzt, wird unterschätzt – mieser Kalauer, der selbst im Literaturbetrieb noch weitreichend gültig ist. Und doch wächst allmählich das Bewusstsein für den schöpferischen Eigenwert der Übersetzung ebenso wie für die politischen Implikationen allen übersetzerischen Tuns.

***

ZWEIFACH

Übersetzen ist Einübung in Differenzkompetenz. Vor dem Hintergrund einer Gegenwart, in deren politischen Debatten hier zu viel und dort zu wenig auf Differenz beharrt wird, ruft die Übersetzungsreflexion das Potential zu einer doppelten Gegenbewegung wach: Einer, die auf Unterscheidung besteht, wo immer sich der jeweilige Hegemonialdiskurs die Abweichung einverleibt, wo Homogenisierung angestrebt und Pauschalisierung betrieben wird. Und einer, die auf Übersetzbarkeit insistiert, auf Gleichheit als Grundlage anerkannter Verschiedenheit, auf dem Universalismus eines gleichen Rechts auf Rechte (Hannah Arendt), wo die Sektierer und Spalter ihr antipluralistisches Othering treiben. In den verschiedenen Arten zu übersetzen spiegelt sich das Möglichkeitsspektrum unseres Umgangs mit Differenz. Deshalb ist es der literarischen Übersetzung mehr als jeder anderen Kunstform gegeben, gegen entsolidarisierenden Unterscheidungsfanatismus ebenso zu sensibilisieren wie gegen kulturchauvinistische Ignoranz – und jede Übersetzung lässt sich auch und gerade danach beurteilen, ob und wie sie dieses Potential ausschöpft.