Ursula Krechel: Shanghai fern von wo

Rezension zu Krechels „Shanghai fern von wo“ (Kurzfassung in „Literaturen“, Dez 08):

Die Nähe der Ferne

Ursula Krechel hat einen akribisch recherchierten Roman über jüdische Exilanten in Shanghai geschrieben

Vielleicht darf man von einem Lebensthema sprechen. Ursula Krechel hat mit „Shanghai fern von wo“ einen historischen Tatsachenroman vorgelegt, dessen eigene Geschichte vor knapp drei Jahrzehnten beginnt. 1980 ist die Autorin zum ersten Mal nach Shanghai gereist, das unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg noch ein sogenanntes Internationales Settlement gewesen war: mehrstaatlich verwaltet und ohne Visumspflicht. Für die Verfolgten des Nazi-Regimes war die chinesische Hafenmetropole damit eine der letzten Fluchtmöglichkeiten. 18000 deutsche und österreichische Juden sind nach den Pogromen von 1938 dorthin ins Exil gegangen.

Einigen von ihnen eine Stimme zu geben, wird für Krechel zum Ziel eines zunächst noch undefinierten Projekts. Eine jahrelange Recherche beginnt. Krechel sammelt dokumentarisches Material aus europäischen und israelischen Archiven, liest Zeitzeugenberichte, Akten der Hilfsorganisationen und Konsulate, studiert zeithistorische Arbeiten. Zehn Jahre nach ihrem ersten Aufenthalt reist sie noch einmal nach Shanghai, um die übrig gebliebenen Stätten der Emigration aufzusuchen. Wieder vergehen einige Jahre, eine „Zeit der Unsicherheit, des Ausprobierens“. Bis Mitte der 90er die vierteilige Hörfolge „Fluchtpunkte“, dann das Hörspiel „Shanghai fern von wo“ entstehen.

Bis der Roman desselben Titels vorliegt, dauert es ein weiteres Jahrzehnt. Das polyphone, unmittelbare Sprechen des Hörspiels war auf die komplizierte Prosa-Konzeption nicht übertragbar. Statt dessen musste eine Erzählstimme gefunden werden, die das Anmaßende einer Identifikation vermeidet, aber die Empathie mit den Exilanten zum Ausdruck bringt, die ja das Movens von Krechels Schreiben war.

Die Figuren und ihre Wege nach und in Shanghai schildert der Roman zunächst scheinbar episodisch, bis sich einzelne Linien kreuzen und vorübergehend auch verbinden, ohne jedoch unter einem forcierten Konstrukt zusammengezwungen zu werden. Krechel subsummiert ohnehin nicht. Gerade weil sie einen Zusammenhang erkennt zwischen Flucht und Verflüchtigung, zwischen Entwurzelung und drohendem Persönlichkeitsverlust, fasst sie ihre Figuren, die auf historische Personen zurückgehen, als Individuen, nicht als Typen. Sie lässt (oder gibt) ihnen bis in kleinste Feinheiten der Charakterzeichnung große persönliche und biographische Unterschiede, auch ideologische Differenzen. Sie zeigt Menschen, die unter ihren je eigenen Voraussetzungen in einer Stadt ums Überleben kämpfen, die „eine äußerste Zuspitzung“ war, „ein gewaltiger fiebriger Aufruhr“. Shanghai justiert alles neu: wertet Fähigkeiten auf und macht andere komplett nutzlos; stellt Prüfungen, bei denen es um Apfelstrudel geht und doch um die Existenz. Die Stadt ist „ein Glücksspieler-Pflaster, eine Spielhölle“, die ganze Andersartigkeit eines soeben noch weit entfernten Erdteils.

Doch dann scheint die Distanz zu schrumpfen. Übers Radio dringt die NS-Propaganda in die Flüchtlingsunterkünfte, der lange Arm des deutschen Willkürgesetzes reicht bis ins asiatische Exil. Ab 1941 betreibt das Deutsche Generalkonsulat vor Ort seine antisemitische Propaganda auf Hochtouren. Shanghai soll nach den Plänen der Nazis eine Stadt ohne Juden werden; die Japaner, die inzwischen das Territorium besetzen, versucht man dafür als Erfüllungsgehilfen zu gewinnen. Das misslingt zunächst, doch wird Anfang 1943 eine verklausulierte Verfügung erlassen, die nichts anderes bedeutet als die Ghettoisierung aller jüdischen Flüchtlinge im Stadtteil Hongkew. Emigranten, die sich bis dahin unter widrigsten Bedingungen eine neue Lebensgrundlage aufgebaut haben, stehen wieder vor dem Nichts. Nur wenige Privilegierte dürfen die bewachte Zone verlassen, ihr Vorrecht trennt sie zugleich von der Gemeinde. Hunger, Epidemien und „die Zielgerichtetheit der Beschämung“ werden zum Alltag, zu dem zunehmend auch der Tod gehört.

Am 15. August 1945 kapituliert Japan, am 3. September wird das Ghetto aufgelöst. Doch ein Ende der Leidenszeit ist nicht in Sicht. Ortlosigkeit wird zu einer neuen Form von Lebensbedrohung, Ausreisen zur bürokratischen Odyssee. Die wenigen Rückkehrer nach Deutschland stoßen auf die tauben Ohren der Justiz. „Das Lebenwollen war verseucht, es gab keine Haltepunkte, es gab Schutt und ein wohltätiges Vergessen“.

Ursula Krechel macht diese Vorgänge sichtbar mit einer Vielzahl von Original-Zitaten aus unterschiedlichsten Dokumenten, aber auch mit Hilfe einer akribischen Arbeit am Sprachmaterial. An dem Roman hat auch die Lyrikerin Krechel mitgeschrieben. Seine Sprache – und damit geht Krechel ein beträchtliches Risiko – ist geprägt von einer regelrechten Obsession fürs Wortspiel. Doch hat das Wort „Spiel“ hier nichts mit seinen sonstigen Konnotationen zu schaffen. Es sind semantische Deklinationen und minimale Veränderungen an den Worten, die nirgendwo Selbstzweck sind, sondern zum Indikator der beschriebenen Wirklichkeit werden. Krechel wiederholt die Worte oder variiert sie minimal, bis sie umschlagen, den Wandel preisgeben, den der geschichtliche Kontext an ihrer Bedeutung vornimmt, bis hin zur zynischen Verkehrung.

Ganz selten einmal verfehlt Krechel die Gemessenheit der Worte, wie bei dieser Ursachenforschung für die Reisestrapazen der Rückkehrer: „An die Stelle des perfekten Kalküls der Verbrecher, denen er entgangen war, trat die Unbedarftheit der lachhaft kopflosen, braven Hilfsorganisation.“ An die Stelle? Die Kritik an den desorganisierten Helfern der IRO mag berechtigt sein; der Vergleich mit den Nazi-Schergen ist es sicher nicht. Doch fällt eine solche Formulierung auch deshalb auf, weil Krechel die Worte sonst mit so viel Bedacht wählt und mit äußerster Präzision.

Um es also noch einmal deutlich zu sagen: „Shanghai fern von wo“ ist eine beeindruckende schriftstellerische Leistung, ein Buch, das dokumentarische Sorgfalt und großes erzählerisches Vermögen zusammenführt. Vielleicht wird die Literaturgeschichtsschreibung diesen Roman einmal Ursula Krechels „Hauptwerk“ nennen. Sie hätte gute Gründe für ein problematisches Etikett.

Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Jung und Jung, Salzburg 2008. 504 S., 29,90 €.